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Die Entstaatlichung stoppen

Die zukünftige Rolle des Staates Von Erhard Eppler | Zitiert aus: © ZEIT ONLINE 5.1.2009 - 08:18 Uhr "In einem Jahrhundert, in dem das Kapital global handelt, müssen auch supranationale Ebenen der Staatlichkeit gestärkt werden Der Staat muss im 21. Jahrhundert zuerst einmal seine Kernaufgaben erledigen, die ihn zum Staat machen. Er muss sein - dem Recht unterworfenes - Gewaltmonopol erhalten, durchsetzen oder wiederherstellen. Er muss den Trend zur Privatisierung, Entstaatlichung und Kommerzialisierung der Gewalt stoppen. Kriege zwischen Staaten werden seltener, Eindämmung und Überwindung entstaatlichter Gewalt wichtiger und mühsamer. Der Staat muss verhindern, dass Sicherheit vor Verbrechen zu einer von vielen Waren wird, die einige sich leisten können und viele nicht. Was direkt oder indirekt mit dem staatlichen Gewaltmonopol zusammenhängt, darf nicht privatisiert werden. Das gilt für Polizei, Militär, aber auch Gefängnisse und alle Institutionen des Rechtswesens. Der Staat muss - nach demokratischen Regeln - Recht setzen und durchsetzen. Das kann er nur, wenn sein Gewaltmonopol unangefochten bleibt. Der Staat ist dafür verantwortlich, dass alle ihre Bildungschance bekommen. Bildung ist keine Ware am Markt, sondern ein Menschenrecht, dem zu dienen der Staat verpflichtet ist. Im 21. Jahrhundert müssen Bildungschancen für jedes Alter angeboten werden. Der Staat hat nicht zu dekretieren, was Kultur ist. Aber er hat die Bedingungen zu schaffen für Kultur, auch solche, die sich am Markt nicht halten könnte (Oper, Symphonieorchester etc.). Der Staat ist für Wahrheit nicht zuständig, wohl aber für die Bedingungen der Wahrheitsfindung (z.B. Lehrstühle für Wissenschaften, die aus Sicht der Wirtschaft überflüssig sind). Der Staat hat den Märkten Rahmen zu setzen. Einen Rechtsrahmen, der festlegt, was im Streben nach Rendite und im Wettbewerb erlaubt ist und was nicht. Einen ökologischen Rahmen, der Produzenten und Konsumenten dazu motiviert, drängt oder notfalls zwingt, sich ökologisch vernünftig zu verhalten. Der Staat ist verantwortlich für die Vermeidung einer Klimakatastrophe, die, lie?e man die Marktgesetze walten, nicht zu verhindern wäre. Ein sozialer Rahmen muss erreichen, dass die Kluft zwischen arm und reich sich nicht mehr vertieft, sondern langsam zugeschüttet wird. Daher hat der Staat auch eine Umverteilungsfunktion. Die progressive Einkommensteuer ist dafür ein bewahrtes Instrument. Daran ist festzuhalten. Zum sozialen Rahmen gehört das Arbeitsrecht, vor allem aber Gesetze zur Sicherung aller Bürgerinnen und Bürger gegen die Risiken von Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Arbeitsunfähigkeit, Alter und Pflegebedürftigkeit. Wo immer die Menschenwürde verletzt wird, ist der Staat gefordert. (Artikel 1 GG) Der Staat rnuss seinen Bürgerinnen und Bürgern nicht nur Freiheit lassen, indem er sich nicht einmischt, wo er nichts zu suchen hat. Er muss Freiheit garantieren, einklagbar machen und notfalls gegen nichtstaatliche, meist ökonomische Macht durchsetzen. Pressefreiheit verlangt im 21. Jahrhundert nicht nur, dass keine staatliche Behörde sich Zensur anmaßt. Sie verlangt auch Schutz vor Investoren, die - ohne Erfahrung im Journalismus - Verlage aufkaufen, einzig, um die Rendite zu erhöhen. Wahrscheinlich geht dies nicht ohne gesetzliche Regelung. Wenn im 21. Jahrhundert vom Staat die Rede ist, kann nicht nur der Nationalstaat gemeint sein. Für staatliches Handeln sind auch Städte und Gemeinden, regionale Einheiten (Länder, Counties, Departements etc.) zuständig, aber auch die Europäische Union, manchmal sogar die UNO. In einem Jahrhundert, in dem das Kapital global handelt, investiert - oder nicht investiert - kann nationalstaatliche Rahmensetzung unwirksam werden. Was den Nationalstaaten verloren geht, muss von der Europäischen Union, in einigen Fällen auch durch die UNO übernommen werden. Daher werden die supranationalen Ebenen der Staatlichkeit an Bedeutung gewinnen. Bemerkung ZEIT ONLINE: Laissez-faire und Deregulierung waren gestern, mit der Finanzkrise ist der Staat zurückgekehrt. Das gibt die Gelegenheit, seine Rolle neu zu überdenken. Wir haben dazu Expertenmeinungen gesammelt. Ein Projekt des Global Policy Institute der London Metropolitan University und dem Londoner Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung." Dr. Erhard Eppler ist ehemaliger Bundesminister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit Gründungsvorsitzender der SPD Grundwertekommission


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