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Hohe Lohnforderungen zum falschen Zeitpunkt?

Heute für Sie gelesen: Wirtschaftsdienst 2009 • 2 Die Tarifrunde 2009 ist in vollem Gange. In zahlreichen Branchen laufen die Lohn- und Gehaltsverhandlungen. Die aktuellen Tarifforderungen der Gewerkschaften fallen differenziert aus. Sie reichen von 5% im Bereich Nahrung-Genuss-Gaststätten, 5,5% in der Textil- und Bekleidungsindustrie, über 6% im Bauhauptgewerbe, 8% und mehr im öffentlichen Dienst (Länder), bei der Deutschen Telekom und in der Gebäudereinigung, bis zu 10% für die Beschäftigten der Deutschen Bahn. Insgesamt kann – zumal angesichts des zurzeit geringen Anstiegs der Lebenshaltungskosten – von tarifpolitischer Bescheidenheit nicht die Rede sein. Kommen die teils hohen Lohnforderungen zum falschen Zeitpunkt? Sollten vereinbarte Tariferhöhungen, wie z.B. in der Metallindustrie als Option vereinbart, verschoben werden? Zunächst ein kurzer Blick zurück: Die tarifpolitische Bilanz der vergangenen Jahre fiel insgesamt recht bescheiden aus. In den vergangenen fünf Jahren konnten die vereinbarten Tarifsteigerungen nur mit großer Mühe den Anstieg der Lebenshaltungskosten ausgleichen. Im vergangenen Jahr lag die Tarifanhebung von 2,9% gerade einmal 0,3% über der Preissteigerungsrate von 2,6%. Bezieht man die Steigerung der Tarifeinkommen auf den gesamten neutralen Verteilungsspielraum aus Preis- und Produktivitätsanstieg, so konnte dieser Spielraum in vier von fünf Jahren nicht ausgeschöpft werden. Noch schlechter fällt die Bilanz aus, wenn man die effektiv gezahlten Bruttomonatsverdienste in den Blick nimmt. Seit Jahren verzeichnen die Arbeitnehmer einen Reallohnrückgang; der zu Ende gegangene Aufschwung war der erste in der Nachkriegsgeschichte, der für die Beschäftigten keinen Reallohnzuwachs gebracht hat. Eine Teilhabe der Beschäftigten am gestiegenen wirtschaftlichen Reichtum gelang also nicht, im Gegenteil: der Anteil des Arbeitseinkommen am Volkseinkommen ging zugunsten der Gewinn- und Vermögenseinkommen deutlich zurück. Die Lohnquote ist seit der Jahrtausendwende regelrecht abgestürzt. Bereits im vergangenen Jahr hatte die Mischung aus hervorragender Gewinnsituation der Unternehmen, rasant steigenden Managereinkommen und reichlicher Dividendenausschüttung einerseits und stagnierenden Arbeitnehmereinkommen andererseits eine hohe Erwartungshaltung bei den Beschäftigten geschürt. Die zum Teil in hart geführten Tarifkonflikten ausgehandelten Tarifsteigerungen lagen denn auch erkennbar über den Vorjahresabschlüssen. Sie wurden aber durch die energiepreisbedingte Steigerung der Lebenshaltungskosten weitgehend „aufgefressen“. Die Unzufriedenheit mit der Einkommensentwicklung blieb deshalb virulentund fand ihren Niederschlag in den diesjährigen Tarifforderungen. Hier spielen auch branchen- und tarifbereichsspezifische Besonderheiten eine Rolle. So wollen die Länderbeschäftigten Anschluss an ihre KollegInnen bei Bund und Gemeinden halten und eine Tarifabkopplung in jedem Fall vermeiden; bei der Deutschen Bahn wie auch bei der Deutschen Telekom verweisen die Gewerkschaften auf die bis zuletzt ausgezeichneten Bilanzen der Konzerne, die die Forderungen rechtfertigten. Entscheidend ist für die Tarifrunde 2009 aber der gesamtwirtschaftliche Zusammenhang: Angesichts der weltweiten Rezession und in der Folge einbrechender Exportnachfrage hängt für die konjunkturelle Entwicklung vieles davon ab, wie sich die Binnennachfrage entwickelt. Selbst die Mehrheit der Mainstream-Ökonomen konstatiert eine klassische „keynesianische Situation“, bei der die Nachfragelücke durch staatliche Konjunkturstützungsmaßnahmen geschlossen werden müsse. Wie auch immer man die zwei Konjunkturpakete der Bundesregierung im Einzelnen beurteilt, es wäre mehr als kontraproduktiv, wenn ausgerechnet in dieser Situation die Tariflohnpolitik prozyklisch, also Krisen verschärfend, mit falscher Bescheidenheit dem Pfad der Lohnmoderation folgen würde, der sich bereits in den vergangenen Jahren als Holzweg erwiesen hat. Auch die Verschiebung vereinbarter Tariferhöhungen sollte nur im Notfall zur Anwendung kommen. Auf breiter Front genutzt, höhlt sie lediglich die dringend erforderliche Stärkung privater Nachfrage aus. Dass die vorübergehend rückläufige Preisentwicklung zu einer Realaufwertung der Nachfrage führt, ist zu begrüßen, sollte aber nicht bei den Lohnforderungen gegen gerechnet werden. Die Mindestorientierungsgröße sollte die Zielinflationsrate der EZB bilden. Reinhard Bispinck Leiter des Tarifarchivs des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Instituts in der Hans- Böckler-Stiftung (WSI), Düsseldorf Reinhard-Bispinck@boeckler.de


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